21. Nov 2017

11. qualityaustria Gesundheitsforum

Das Gesundheitssystem darf nicht nur ökonomisch gestaltet werden!

Die spannende Zukunft, aber auch die prekäre Lage des Gesundheitssektors standen am 16. November im Fokus des 11. qualityaustria Gesundheitsforums. Experten aus Österreich und England fanden sich in der Wolke 19 im Ares Tower ein, um über Big Data Projekte in der Medizin und längst notwendige Veränderungen des heimischen Gesundheitswesens zu diskutieren.

Bild (oben) v.l.n.r.: Gerd Hartinger (Geschäftsführer, Geriatrische Gesundheitszentren der Stadt Graz), Eva-Maria Kirchberger (Imperial College Business School, Centre Experience Designer, Imperial Business Analytics with KPMG), Günther Schreiber (Netzwerkpartner, Projektmanagement und Koordination Branche Gesundheitswesen, Quality Austria)

Das Gesundheitssystem krankt

Nach der Eröffnung des Gesundheitsforums durch Axel Dick (Business Development Umwelt und Energie, CSR, Quality Austria) zeigte Günther Schreiber (Netzwerkpartner, Projektmanagement und Koordination Branche Gesundheitswesen, Quality Austria) aktuelle Studien zu Hygienemängeln und Behandlungsfehlern in Krankenhäusern auf. In Europa infizierten sich jährlich rund 2,6 Millionen Menschen im Krankenhaus mit lebensbedrohlichen Keimen. Etwa 90.000 Menschen würden sogar an den Folgen einer solchen Infektion sterben. [Laut den Forschern um Alessandro Cassini vom Europäischen Zentrum für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC); Die Daten wurden 2011/12 in 30 europäischen Ländern mit insgesamt 510 Millionen Einwohnern erhoben.] „Ein Drittel der Krankenhausinfektionen wären unter anderem durch bessere Hygiene vermeidbar“, erklärte Schreiber. Die für die Studie herangezogenen Daten aus Österreich seien jedoch dürftig gewesen, da hierzulande keine gesetzliche Verpflichtung zur Meldung von Infektionen bestehe. Eine bundesweit einheitliche Datenerfassung sei jedoch ab 2018 in Österreich vorgesehen. Nach Schreiber ist zudem die Anzahl der medizinischen Behandlungsfehler gestiegen: In den USA seien diese nach Herz-Kreislauf- und Krebs-Erkrankungen bereits die dritthäufigste Todesursache. In Bezug auf das österreichische Gesundheitssystem sieht er die Versorgung der Patienten akut gefährdet. Das Pflegepersonal werde reduziert, obwohl bereits jetzt zu viele Patienten auf einen Pfleger kommen würden. „Der Mangel an Pflegepersonal erhöht das Sterblichkeitsrisiko der Patienten“, appellierte Schreiber. 32 Prozent der angestellten Ärzte in Niederösterreich seien emotional erschöpft, wodurch sie auch die von Patienten erhoffte Empathie nicht aufbringen können würden. Darüber hinaus stehe eine Pensionswelle bei Österreichs Ärzten bevor: „Von den 3.728 Allgemeinmedizinern in Österreich gehen bis zum Jahr 2025 rund 60 Prozent in Pension“, so Schreiber.

Qualität in der Gesundheitsversorgung

Im Anschluss stellte Christian Schweiger (AKH Wien, Medizinischer Universitätscampus, Klinisches Institut für Medizinische und Chemische Labordiagnostik) die Revision der europäischen Norm EN 15224:2016 vor, die im März dieses Jahres publiziert wurde.

Bild v.l.n.r.: Christian Schweiger (AKH Wien, Medizinischer Universitätscampus, Klinisches Institut für Medizinische und Chemische Labordiagnostik), Martina Anditsch (Leiterin der Anstaltsapotheke AKH Wien, Medizinischer Universitätscampus), Günther Schreiber (Netzwerkpartner, Projektmanagement und Koordination Branche Gesundheitswesen, Quality Austria)

„Eine der wesentlichen Anforderungen der EN 15224 ist, die Ansprüche des Patienten und die Möglichkeiten des Hauses aufeinander abzustimmen“, erklärte Schweiger. Die EN 15224 berücksichtige umfassend die Patientenorientierung, Risikomanagement, Patientensicherheit, Prozessorientierung, Legal Compliance, Organisationskultur und die Stellung der Organisation im Kontext der Versorgung.

 

Vermeidbare Medikationsfehler

Danach ging Martina Anditsch (Leiterin der Anstaltsapotheke AKH Wien, Medizinischer Universitätscampus) auf unerwünschte Wirkungen von Arzneimitteln und die daraus entstehenden Therapiekosten ein. 816 Millionen bis 1,3 Milliarden Euro könnten in Deutschland durch vermeidbare unerwünschte Arzneimittelwirkungen eingespart werden. Die Einführung eines Medication Reconciliation Teams bestehend aus Arzt, Apotheker und Pfleger würde die Risiken von Medikationsfehlern sowie die Behandlungs- und Gesundheitsausgaben verringern. Der qualitätssichernde Beitrag der klinischen Pharmazeuten im Medication Reconciliation Team zu einer optimierten medikamentösen Therapie sei in zahlreichen internationalen Studien nachgewiesen. „Klinische Pharmazeuten erhöhen nicht nur die Patientensicherheit, sondern können auch rund 20 Prozent der Kosten einsparen“, so Anditsch. Die Ergebnisse eines Projektes im AKH würden dies bestätigen. Im Rahmen einer Studie konnten durch Dosisreduktion, Umstellung auf orale Medikamente und Absetzen klinisch nicht-indizierter Arzneimittel wesentliche Einsparungen pro Patient erzielt werden. Damit sei erstmals in Österreich das hohe  osteneinsparungspotential durch eine nachhaltige Qualitätssicherung aufgezeigt worden. „Der Apotheker kann mehr, als nur Medikamente abgeben – er hat ein enormes Know-how hinsichtlich der Nebenwirkungen und Wechselwirkungen und sollte daher stärker zur Beratung herangezogen werden“, machte Anditsch deutlich.

 

Aufbrechen von Strukturen

Welche Veränderungen im österreichischen Gesundheitssystem notwendig sind, beschrieb Gerd Hartinger (Geschäftsführer, Geriatrische Gesundheitszentren der Stadt Graz). Organisationen, die sich vernetzen und kooperieren, seien fit für die Zukunft. „Die strenge Trennung zwischen stationären und ambulanten Leistungen ist aufzubrechen“, betonte Hartinger. Österreich brauche zudem eine zentrale Gesundheits- und Sozialpolitik. „Zu sagen, ‚es geht nichts in Österreich' ist der falsche Weg“, so Hartinger. Ständiges Lernen, eine strukturierte Wissensweitergabe und das Einbinden aller Mitarbeiter seien wichtig, um Veränderungen voranzutreiben. In den Geriatrischen Gesundheitszentren würde daher auch die Strategie „patient first“ statt „doctor first“ verfolgt werden. Denn ein Arzt könne nicht alles wissen.

 

Big Data in der Medizin

Eva-Maria Kirchberger (Imperial College Business School, Centre Experience Designer, Imperial Business Analytics with KPMG) zeigte anhand von mit dem National Health Service (NHS) in England durchgeführten Big Data Projekten auf, wie der Gesundheitsbereich durch die Digitalisierung revolutioniert werden kann. Aktuell werde in Großbritannien viel in Mobile Health und Big Data Analyse investiert: So steht in England eine App des NHS zur Verfügung, mit der man einem Chatbot die Krankheitssymptome beschreiben kann. Dieser stellt dann Fragen und gibt Empfehlungen ab, wie beispielsweise einen Arzt aufzusuchen. Außerdem ist es mit der App möglich, einen Arzttermin zu vereinbaren und klinische Aufzeichnungen mit Familienmitgliedern zu teilen. Eine weitere Anwendung von Big Data sei die Analyse von Patientenströmen in Krankenhäusern. Dadurch könne unter anderem nachvollzogen werden, welche Abteilungen Patienten durchlaufen, mit welchen Ärzten sie in Berührung kommen und welche Patienten am teuersten seien. Außerdem könne man durch Analyse von Daten zu Ansteckungen Krankheitsausbrüche zur Quelle zurückverfolgen. Als weiteres Beispiel nannte Kirchberger die Erstellung von Genprofilen von Patienten, um mehr über gewisse Krankheiten wie Asthma zu erfahren und spezielle Medikamente zu entwickeln. „Die Macht der Big Data Analyse ist, dass man damit ein komplettes Profil eines Menschen erstellen kann und viele Daten zum Vergleich hat. Es wird in Zukunft alltäglich sein, dass der Zugang zum Körper über den Computer erfolgt und wir diesen als Datenvisualisierung betrachten“, so Kirchberger.

 

Megatrends von morgen

In seiner Conclusio hob Günther Schreiber hervor, dass Patientensicherheit und Qualität an oberster Stelle stehen müssen. „Das Gesundheitssystem darf nicht nur ökonomisch gestaltet werden!“, hob Schreiber hervor. Außerdem seien ein professionalisierter Führungsstil und die Positionierung als attraktiver Arbeitgeber notwendig, um den steigenden Fachkräftemangel bis hin zum Pflegenotstand in Krankenhäusern zu bewältigen. Darüber hinaus ging Schreiber auf innovative Modelle wie den Capitation-Ansatz ein, bei dem Ärzte eine Pro-Kopf-Pauschale je Versicherten bzw. je Patient erhalten würden. Dadurch werde ein Anreiz zur Gesunderhaltung der Patienten geschaffen, denn je gesünder der Patient bleibe, desto mehr Gewinn werde erzielt. Die Verwendung von neuen Techniken wie Tele- Notfallmedizin, Barcodes oder RFID (RadioFrequency IDentification) seien am Vormarsch. Abschließend ging Schreiber noch auf weitere Megatrends im Gesundheitsbereich wie Work-Life-Blending, E-Health und Ambient Assistend Living ein.

Für Rückfragen:
Manfred Haider
Himmelhoch GmbH
Tel.: +43 650 856 9881

Ansprechpartner Gesundheitswesen

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quadratisches Portraitbild von Günther Schreiber

Herr Dr.med.univ. Günther Schreiber

Netzwerkpartner, Projektmanagement und Koordination Branche Gesundheitswesen

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